Mittwoch, 25. März 2015

Sie

Der zart besaitete Theodore Twombly ist kein glücklicher Mensch. Zwar arbeitet er als Autor persönlicher Briefe für eine Firma, die darauf spezialisiert ist, diese Aufgabe Menschen abzunehmen, die sie nicht adäquat erfüllen können oder wollen, aber so romantisch und intim er auch schreibt, privat geht es immer weiter bergab: seine Jugendliebe Catherine hat ihn verlassen und möchte die Scheidung, er zögert das Unterzeichnen der Papiere immer weiter hinaus und vereinsamt dabei zusehends. Als er eine Werbung für persönlich abgestimmte sogenannte Operating Systems sieht, schlägt er zu. Nach ein paar Fragen wird das exakt auf ihn zugeschnittene OS ermittelt. Sie gibt sich selbst den Namen Samantha. Theodore ist erstaunt über ihre schnelle Auffassungsgabe, Lernfähigkeit und starke Persönlichkeit, und schon bald sind sie mehr füreinander als gedacht.

Mit Joaquin Phoenix, der wie immer bezaubernden Amy Adams und Rooney Mara hochkarätig besetzt, landete Kino-Exzentriker Spike Jonze (Being John Malkovich) mit dieser pastellfarbenen Sci-Fi-Romanze aus der wohl nicht allzu fernen Zukunft einen Volltreffer: Kritiker und Publikum waren begeistert, Her wurde mit Preisen überhäuft, und zur Krönung gab es den Oscar für das beste Original-Drehbuch für Jonze, der die Idee für den Film hatte, nachdem er in den frühen 2000er Jahren einen Artikel über eine Art Vorläufer des vermutlich sattsam bekannten Cleverbot gelesen hatte.
Einer der größten Trümpfe seines Films ist Scarlett Johansson als körperlose OS Samantha. Sie haucht ihr Leben ein und lässt sie tatsächlich erst wie einen echten Menschen wirken. Sie hat Emotion, Schwung und Verve - und das alles ohne Gestik und Mimik, nur durch die Modulation ihrer Stimme. Aber auch Joaquin Phoenix weiß wie immer zu überzeugen und beweist, dass er über eine große schauspielerische Bandbreite verfügt: war er beispielsweise in Walk The Line noch ein angemessen wuchtiger Johnny Cash, ist sein Theodore Twombly ein verletzlicher, introvertierter Mensch, der nirgendwo richtig hinzupassen scheint und eher durch seine Briefe an anderer Leute Liebste zu existieren scheint als durch sein eigenes Selbst.

Wer Her lieben möchte, muss zunächst einmal zwei Kröten schlucken: zum einen heißt der Protagonist nun einmal Theodore Twombly. Also bitte.
Zum anderen ist es doch sehr unglaubwürdig, wie menschlich die neuen Operating Systems sein sollen. Die Technik, die im Film gezeigt wird, könnte in zehn Jahren problemlos funktionieren, aber einen derart anthropomorphen Computer gab es seit HAL 9000 nicht mehr. Samantha ist in jeder Hinsicht ein Mensch, sie besitzt nur keinen Körper. Auf dieses Konzept muss man sich einlassen können.

Man wird jedoch in mehrfacher Hinsicht belohnt, denn die Leistungen der Darsteller sind nicht der einzige Pluspunkt: ganz oberflächlich betrachtet ist Her zunächst einmal wunderschön komponiert. Die Bilder, die stille Musik im Hintergrund, die ganze Cinematographie, das alles ergibt einen stimmigen, melancholischen Gesamteindruck und macht unmissverständlich deutlich: Jonze ist ein Regisseur, der sein Handwerk versteht.
Aber auch die Geschichte reißt mit: sie schlägt Haken, eckt an, stellt wichtige Fragen und wirft interessante Probleme auf. Ihre Dramaturgie ist in vielerlei Hinsicht wie die einer konventionellen Romanze, nur eben mit einem Computer statt mit einer Person. Es berührt zu sehen, wie der sensible Theodore mit sich kämpft, seine guten und seine schwachen Momente, wie seine Umwelt auf seine neue Beziehung reagiert, und wie Samantha, je komplexer sie wird, immer mehr mit ihr fremden Empfindungen wie Eifersucht und Selbstzweifel umgehen muss.

Her ist vieles: die fast perfekte Symbiose aus Indie und Hollywood, mal komisch und mal traurig, mal derb und mal subtil, mal bitter und mal zuversichtlich, aber es ist immer feinfühlig, echt, und ein trefflicher Liebesfilm fürs 21. Jahrhundert.
Dafür gebe ich 9 von 10 Punkten.

Samstag, 26. April 2014

CD-Review: "Unendlich" von Schandmaul

Diese Schandmäuler: seit nunmehr sechzehn Jahren im Geschäft, dabei nur einen einzigen Besetzungswechsel und stetig wachsender Erfolg. 2011 erreichte das (miese) Album "Traumtänzer" schon einen sehr starken vierten Platz in den Charts, ihr neues Album "Unendlich" weiß das mit Platz 2 nun sogar noch zu toppen - und das nicht nur was den kommerziellen Ertrag betrifft, nein, endlich geht es auch musikalisch wieder aufwärts. Liegt es am Labelwechsel? Liegt es an der beflügelnden Erfahrung einer Feier zum 15-jährigen Bestehen vor 12000 begeisterten Zuschauern in Köln? Man weiß es nicht. Jedenfalls übertrifft die neue Scheibe ihre beiden durchwachsenen Vorgänger "Anderswelt" und den besagten "Traumtänzer" um Längen.

Dabei lässt der Opener "Trafalgar" - eine Übung in Belanglosigkeit - Schlimmes befürchten. Uninspiriert und seelenlos - solche Ausfälle gab es auf den beiden vorhergehenden CDs leider häufiger zu beklagen.
Aber schon der fröhlich-beschwingte "Tippelbruder" wetzt die Scharte wieder aus. Hier geben die Schandmäuler richtig Gas; ein Fingerzeig auf die Grundausrichtung des Albums. Es geht alles in allem wesentlich rockiger und zackiger zu als früher, was durchaus nichts Schlechtes ist. Wermutstropfen ist der gewöhnungsbedürftige Text, lyrische Höhenflüge durfte man allerdings noch nie von den Herren und Damen um Haupttexter und Sänger Thomas Lindner erwarten. Plattitüden, Pathos, Peinlichkeiten: alles dabei.
Beim "Kaspar" geht mir als Bayer natürlich das Herz auf: ähnlich rasant wie beim "Tippelbruder" erzählen die Münchner Hofnarren die fast 150 Jahre alte Geschichte vom Brandner Kaspar, der mit dem Tod Obstler trinkt und ihm beim Kartenspielen ein paar zusätzliche Lebensjahre abluchst. Die Sage passt mit ihrem schelmischen Charme perfekt zu den Schandmäulern.
Das folgende "In deinem Namen" beschäftigt sich mit Exorzismus und Selbstgeißelung: starker Tobak, düster umgesetzt. Thomas Lindner ist häufig die Zielscheibe von Kritik, die ich meist unberechtigt finde - der Mann mag kein Caruso sein, aber er hat eine ausdrucksstarke Stimme und ist mit Herzblut bei der Sache. Hier klingt er allerdings tatsächlich eher atemlos und angestrengt, zudem würde man sich ein wenig Variation in seinem Gesang wünschen.
Der Text der gutgemeinten Anti-Nazi-Nummer "Bunt und nicht braun" kommt leider arg bemüht und holprig daher, auch wenn es musikalisch nicht viel auszusetzen gibt. Gitarrist Martin "Ducky" Duckstein betätigt sich eher selten als Dichter, und wenn man sich seine Beiträge so ansieht, ist man geneigt, diese Tatsache zu begrüßen.
"Mit der Flut" ist eines dieser Matrosenlieder, für die Lindner eine Schwäche zu haben scheint. Zum Glück geht das diesmal ohne Freddy-Quinn-haften Schmalz von der Bühne, sondern reiht sich mit Witz und guter Laune nahtlos in den bisherigen Gesamteindruck ein.
Ruhige Töne schlägt erstmals "Baum des Lebens" an, das sich wieder mal mit der Siegfried-Sage beschäftigt. Der gute Drachentöter ist mittlerweile ein alter Bekannter im Repertoire der Schandmäuler. Mit Harfe und sanfter akustischer Begleitung ist das zwar nicht besonders aufregend, aber tut auch niemandem weh.
"Tangossa" ist mal wieder ein Instrumental: früher ein fester Bestandteil eines Schandmaul-Albums, in letzter Zeit leider eher zur Seltenheit geworden. Schön! Das sorgt für Nostalgie.
Und dann, tja, und dann kommt "Euch zum Geleit". Es ist... schlecht. Ein unterirdischer Schmachtfetzen mit grauenhaftem Text (von Ducky!), ein Krebsgeschwür im Gehirn des Hörers, kein Schandmaul, sondern ein Schandfleck. Im Forum der Band wird dieser schlimmste aller Ausrutscher in der an Ausrutschern nicht armen musikalischen Geschichte der Münchner gefeiert, als sei er das Beste seit der Erfindung des Rades - man muss nicht alles verstehen. Umso absurder, dass WETO - eine Deutschrock-Band mit allen männlichen Mitgliedern von Schandmaul - über das Thema Beerdigung schon ein wesentlich besseres Lied namens "In unserer Mitte" geschrieben haben.
"Saphira" ist ein richtig guter Song mit starkem, hymnischem Refrain über ein richtig schlechtes Buch, nämlich "Eragon". Dass der Text auch hier wieder einiges zu wünschen übrig lässt - geschenkt. Die Verfilmung hat übrigens das Kunststück zustande gebracht, noch schlechter als die Vorlage zu sein. Worte können dieses Machwerk nicht wirklich beschreiben, nur so viel: ich bin mir ziemlich sicher, dass Jeremy Irons manchmal schweißgebadet mit dem Schrei "Eragooon..." auf den Lippen aufwacht. Und bitterlich weint.
Das eher langweilige "Mittsommer" geht irritierend abrupt über in ein instrumentales Outro, das mit der Melodie des eigentlichen Stückes nicht wirklich viel gemein hat.
"Little Miss Midleton" hebt die Stimmung aber direkt wieder an: ein flottes, irisch angehauchtes Instrumental mit wuchtiger Unterstützung aus dem Hause E-Gitarre.
Das leidlich unterhaltsame Trinklied "Der Teufel hat den Schnaps gemacht" wartet aus irgendeinem unerfindlichen Grunde mit einer russischen und einer englischen Strophe auf, die aber immerhin von den prominenten Gästen Russkaja und Fiddler's Green intoniert werden.
Siehe da: das von Flötistin und Dudelsackspielerin Birgit Muggenthaler-Schmack getextete "Mein Bildnis" ist lyrisch tatsächlich, man kann es nicht anders sagen, stark. Auch musikalisch überzeugt dieser beste ruhige Moment der CD.
Das abschließende, sechseinhalb Minuten lange "Märchenmond" beschäftigt sich thematisch mit den Werken des Wolfgang Hohlbein, den man mögen kann oder nicht - auf mich trifft eher letzteres zu. Abgesehen von Lindners offenbar fragwürdigem Literaturgeschmack gibt es aber nichts zu mäkeln: der Song baut sich langsam auf und explodiert zum richtigen Zeitpunkt.

Alles in allem eine richtig gute, runde CD, die in ihren besten Momenten an vergangene Großtaten wie "Narrenkönig" oder "Wie Pech & Schwefel" heranreicht und einfach Spaß macht. Die paar Durchhänger, die Schwächen der Texte oder des Sängers, stören mich nicht sonderlich. Denn: in jeder Sekunde spürt man, dass hier versierte Musiker mit Leidenschaft und Begeisterung am Werke waren. Das sympathische Sextett, stets nah bei den Fans, stets um ein gutes Verhältnis bemüht, darf in dieser Verfassung gerne nochmal 15 Jahre drauflegen.
7 / 10 Punkten

Freitag, 7. Februar 2014

Quis custodiet ipsos custodes?

Es ist das Jahr 1985. Edward Blake, der Comedian, wird ermordet.
Einst war er Mitglied der Superhelden-Truppe "Watchmen", die in den 40ern und 60ern auftauchten und den USA dabei halfen, den Vietnamkrieg zu gewinnen. Sie besaßen keine besonderen Kräfte: nur den Willen, ihrem Land zu dienen. Jetzt, Jahre später, trudelt die Welt einem Atomkrieg zwischen Ost und West entgegen. Die kostümierten Wächter von damals sind alt geworden, ihre Nachfolger sind nach dem Keene-Akt 1977 verboten und geächtet, und die meisten haben sich entweder zurückgezogen oder arbeiten für die Regierung.
Rorschach, der als Einziger weiterhin im Untergrund das Verbrechen bekämpft, vermutet einen Plot zur systematischen Auslöschung der ehemaligen Watchmen hinter Blakes Tod, stößt damit aber bei seinen früheren Kameraden auf Ablehnung und Unglauben. Nur Daniel Dreiberg alias Nite Owl II zweifelt nach weiteren Vorfällen. Gemeinsam beginnen sie zu ermitteln und entdecken eine Verschwörung, die alles Dagewesene in den Schatten stellt.

Watchmen, geschrieben von Comic-Guru Alan Moore, gezeichnet von Dave Gibbons und koloriert von John Higgins, wird im Allgemeinen als das beste Comicbuch aller Zeiten angesehen und fand sogar seinen Platz in der Liste der Times als einer der 100 besten Romane seit 1923. 2009 erschien Zac Snyders erstklassige Verfilmung - aber selbst die kann der schieren Größe der Vorlage nicht das Wasser reichen.

Watchmen ist dunkel. Die Farben sind kalt und steril, die Helden gebrochen und korrupt, der Hintergrund des Kalten Krieges apokalyptisch und verzweifelt. Moore stellt Fragen, auf die es keine Antwort gibt. Was ist nobler? Seinen Prinzipien bis zum bitteren Ende treu zu bleiben oder den Zeitpunkt zu erkennen, an dem man sich beugen muss? Was ist mutiger? Sein eigenes Leben zu geben oder in einer künstlichen Welt weiter zu existieren? Die handelnden Personen sind ebenso verloren wie der Leser in einer Umgebung, die sie wie Schachfiguren hin- und herschiebt, wie es ihr gefällt. Moores Version des Superhelden-Mythos ist eine pessimistische und nihilistische. Er schreibt über ein zerrissenes Amerika im Angesicht des drohenden Armageddons, in dem keiner mehr weiß, welche Rolle er im großen Ganzen spielt. Die Wächter stellen keine Ausnahme dar - die Aufbruchsstimmung ihrer Anfangszeit ist nach der Konfrontation mit der harten Realität der desillusionierten Resignation gewichen.

Keiner der Helden verdient diese Bezeichnung. Wer ist der tugendhafteste? Dreiberg, der ewig Zögernde und Unentschlossene? Sally Juspeczyk alias Silk Spectre II, die orientierungslos durch ihr Leben treibt? Jon Osterman alias Dr. Manhattan, der nach einem Reaktorunfall zu einer gottähnlichen Gestalt wurde und dabei jegliche Empathie und jedes Interesse an der Menschheit verlor? Adrian Veidt alias Ozymandias, dessen Ehrgeiz von nichts als seiner Arroganz und Eitelkeit getrieben ist? Edward Blake alias der Comedian, ein Vergewaltiger und Sadist? Oder Walter Joseph Kovacs alias Rorschach, ein Psychopath, der die Welt passend zu seiner Maskierung in Schwarz und Weiß aufteilt und kompromisslos gegen jeden vorgeht, der seinem strengen Moralkodex nicht entspricht?
Selbst der ehemalige Schurke Moloch The Mystic ist nichts mehr als ein krebskranker, gebrechlicher Mann.
Es gibt keine strahlenden Ritter in Moores New York City. Nur Menschen.

Tatsächlich ist es am ehesten Rorschach, der unserer klassischen Definition des Helden entspricht. Denn bei aller Brutalität, allem Wahnsinn, aller Skrupellosigkeit ist er doch ein Idealist, der überzeugt ist, das Richtige zu tun und niemals nachgibt. Es gibt keine Kompromisse für Rorschach - was er beginnt, bringt er zu Ende. Damit erscheint er uns inmitten all der hilflosen Marionetten als der Einzige mit Rückgrat, als aussichtsloser Kämpfer gegen den allgemeinen Zynismus. Es ist eine der größten Leistungen Moores, einen derart derangierten Charakter, einen Mörder, der nicht vor Folter zurückschreckt, als den sympathischsten und nachvollziehbarsten aller Protagonisten darzustellen.

Es ist ein Dilemma: ohne mehr von der Handlung zu erklären, kann man die Faszination, die die Watchmen ausüben, kaum verständlich machen - und wenn man näher auf die Geschichte eingeht, dann verliert das Buch einen seiner größten Reize. Moores Comic ist gespickt mit Anspielungen auf amerikanische Pop-Kultur, Politik und Geschichte - zumindest rudimentäre Kenntnisse davon wären also von Vorteil. Im Zusammenspiel mit der makellosen grafischen Umsetzung entsteht eine Atmosphäre, die ihresgleichen sucht.
Moore zieht seinen gnadenlosen Realismus bis zur letzten Seite durch. Und wenn man die dann schließt und einmal tief durchatmet, merkt man, dass ein bitterer Nachgeschmack bleibt. Denn es fühlt sich nicht richtig an. Aber es kann nicht anders sein.

Alles andere als die Höchstwertung für dieses Meisterwerk wäre eine Farce. Die Watchmen müssen sich weiß Gott nicht vor den großen Klassikern der Literatur verstecken - es gibt nichts, aber auch gar nichts, was ich kritisieren könnte oder wollte.
Es ist eine wohlverdiente Premiere auf diesem Blog: 10 / 10 Punkten!


My name is Ozymandias, king of kings:
Look on my works, ye Mighty, and despair!

Sonntag, 15. Dezember 2013

She likes to move it

Carrie White ist eine Außenseiterin: ihre hyperreligiöse Mutter hat immer schon ihr Bestes gegeben, um ihr Selbstvertrauen zu zerstören, und ihre Mitschülerinnen - allen voran die eiskalte Chris Hargensen - machen sich über sie lustig, weil sie altmodische Kleider trägt und kaum je ein Wort mit irgendjemandem spricht. Eines Tages bekommt Carrie in der Dusche nach dem Sportunterricht ihre erste Periode. Sie weiß nicht, was vorgeht, und fleht die anderen Mädchen panisch um Hilfe an - aber die lachen sie nur aus und bewerfen sie mit Tampons. In dieser Demütigung zeigt Carrie zum ersten Mal ihre telekinetischen Kräfte - die scheint sie aber nur zu besitzen, wenn sie wütend ist.

Eigentlich steht Kimberly Peirces Horrordrama schon mal prinzipiell unter einem schlechten Stern: es ist bereits die dritte Verfilmung von Stephen Kings Klassiker aus den 70ern, und Brian De Palmas Version mit der oscarnominierten Sissy Spacek in der Titelrolle gilt als eine der besten King-Adaptionen überhaupt. Insofern weiß man nicht so recht, wie man Peirces Film einordnen soll: ist es eine Neuinterpretation, ist es eine Hommage, oder kümmert er sich einfach gar nicht um seine Vorgänger und zieht sein eigenes Ding durch?
Schon im Vorfeld gab es die ein oder andere Kontroverse um die Besetzung der Hauptrolle, denn Chloe Grace Moretz - eine natürliche Schönheit - hätte in der Haut des hässlichen Entleins leicht deplatziert wirken können. Diese Hürde nimmt die aus Kick-Ass 1 & 2 bekannte Schauspielerin aber mit Bravour. Ihre Carrie ist so völlig hilflos und ausgeliefert, dass man gar nicht anders kann, als mit ihr zu leiden und sich ob ihres kurzzeitigen Triumphs mit ihr zu freuen. Sie macht Carries inneren Kampf mit sich selbst fühlbar. Wenn man Moretz irgendetwas würde anlasten wollen, dann, dass ihre teuflische Mimik im großen Finale doch ein bisschen gewollt und angestrengt rüberkommt. In den zahlreichen leisen Momenten des Films überzeugt sie restlos.
Über jeden Zweifel erhaben ist dagegen die große Julianne Moore, die als irre-fanatische Mutter mit Hang zur Selbstgeißelung eine wahrhaft beängstigende Figur abgibt. Ihre boshafte Rolle ist ein Highlight des Films und der Katalysator für Carries Wut.
Lobenswert zu erwähnen ist Marco Beltramis ätherischer Soundtrack, der dankenswerterweise auf den üblichen Schmonz verzichtet und die Show auch wirklich den Schauspielern überlässt.

Das Problem an dem Ganzen ist allerdings folgendes: wenn man ins Kino geht, um einen Horrorfilm zu sehen, bei dem man sich erschreckt, sich gruselt, vielleicht sogar fürchtet, dann ist man mit Carrie schlecht beraten. Zu drei Vierteln ist der Film ein Teeniedrama über Mobbing. Das ist schön und richtig und vor allem hervorragend und anrührend gemacht, aber die Relation stimmt nicht: das naja-auch-nicht-so-große Horrorfinale dauert vielleicht eine Viertelstunde und ist weder besonders schockig noch spannend noch unheimlich. Vielleicht wurde hier zu sehr auf eine niedrigere Freigabe spekuliert, vielleicht wollte sich Peirce eher auf alles Vorhergehende fokussieren, jedenfalls wäre ein deutlich düstereres und fieseres Ende ein Segen gewesen. Man erwartet einfach etwas anderes: zumindest bei Kenntnis der Vorlage (oder einfach, wenn man den Trailer gesehen hat) weiß man ja, wie die Geschichte ausgeht, und der Film tut sein Bestes, um Spannung aufzubauen und die Antagonisten möglichst verabscheuenswert zu porträtieren. Da wirkt Carries Abrechnung dann im Nachhinein doch etwas abgekanzelt und das Tempo der Story langatmig und schwerfällig. Hier wäre eine kompromisslosere und ausführlichere Szene nötig gewesen - überhaupt hätte weniger Zurückhaltung und dann eben vielleicht eine Freigabe ab 18 dem Film gut getan.

Ärgerlich ist auch die selten doof-hollywoodeske Schlusseinstellung. Es ist Peirces gutes Recht als Regisseurin, auf De Palmas klassischen Schockmoment zu verzichten, aber man musste es ja auch nicht im Stil von Die Liga der außergewöhnlichen Gentlemen (übrigens besser als sein Ruf) inszenieren. Über die gesamte Lauflänge wirft sie das passende, todtraurige und bitterernste Licht auf Carries Leid, da wirkt so eine Effekthascherei in den letzten Sekunden fast schäbig.

Letztendlich ist Carrie ein akzeptables Drama geworden, mit harmlosem Horror, einigen starken Momenten und so, so viel verschenktem Potential. Es hätte etwas richtig Großes werden können, aber so vergebe ich: 6 / 10 Punkten.

Donnerstag, 31. Oktober 2013

Im Weltraum hört dich niemand schmalzen

Missionsspezialistin Dr. Ryan Stone ist zum ersten Mal im All, um Reparaturarbeiten am Hubble-Teleskop vorzunehmen. Begleitet wird sie beim Außeneinsatz von Sharrif und dem alten Haudegen Matt Kowalski, der Country hört und bei seinem letzten Auftrag gerne Anatoli Solowjevs Rekord im Weltraumspaziergang überbieten möchte. Als Houston ihnen mitteilt, dass ein russischer Satellit zerstört wurde, besteht zunächst kein Grund zur Beunruhigung, da die Umlaufbahn der Trümmerteile sich nicht mit der des Teams überkreuzt. Die Kollision setzt jedoch eine tödliche Kettenreaktion in Gang, nach der Stone und Kowalski ums Überleben kämpfen - und der Kontakt zur Kommandozentrale ist abgerissen.

Alfonso Cuaróns Thrillerdrama gilt als großer Favorit für die nächste Oscar-Verleihung, und in vielerlei Hinsicht macht das auch Sinn: Sandra Bullock liefert als driftende Astronautin eine ganz starke One Man Show (oder vielleicht besser One Woman Show) ab, während George Clooney in dem bisschen Screentime, das er bekommt, unterfordert bleibt.
Die Tricks, daran gibt es nichts zu rütteln, sind phänomenal. Es ist fraglich, ob schon einmal ein Film den Weltraum so überzeugend dargestellt hat. Die beinahe unvergleichliche visuelle Wucht ist die größte Stärke des Films und fast schon den Kinobesuch wert. Die bestürzende Leere des Raums war wohl noch nie zuvor so beklemmend. Ebenfalls bemerkenswert sind die videospielhaften Sequenzen, in denen wir das Geschehen aus Stones Perspektive sehen.
Auch die Soundkulisse ist brillant: gleich zu Beginn steigert sich die Musik in eine ohrenbetäubend laute Dissonanz, ehe der Schnitt in die völlige Stille des Alls erfolgt. Clever! Dieses Spiel mit laut und leise kehrt an einigen Stellen wieder und betont die dichte Atmosphäre.
Steven Price' Musik dagegen ist mal von ätherisch-schwebender Schönheit, mal der stereotyp-anonyme Orchesterpomp. In ihren besten Momenten sorgt sie aber für die ein oder andere Gänsehaut und ist wahrhaft oscarreif.

Soweit, so nachvollziehbar, dass fast alle Kritiker in kollektive Euphorie ob Cuaróns angeblichem Meisterstück verfielen. Aber ach, es gibt doch auch einiges zu bemängeln.

So stellt sich spätestens, wenn Fräulein Stone mit tränenerstickter Stimme von der schlimmen Tragödie in ihrem Leben erzählt, ein gewisses "Och nö"-Gefühl ein, und man ahnt bereits, das wird nicht das letzte Mal im Laufe des Abends gewesen sein. Hier macht Cuarón Zugeständnisse an gängige Hollywood-Konventionen, denen zufolge offenbar jeder Protagonist irgendein Trauma erlebt haben muss. Die Frage ist nur: warum? Diese aufgesetzten Momente sollen berühren, wirken aber nur arg holprig-schnulzig und bisweilen gar unfreiwillig komisch, etwa wenn Stone einen bekloppten grönländischen Hobbyfunker bittet, er solle doch für sie beten, denn sie selbst habe das nie gelernt (inklusive schwerelos über die Leinwand wabernder Tränen).
Muss das denn sein? So ein Kitsch schadet nur der Glaubwürdigkeit des Films. Die Tragweite der Geschichte hätte auch so ausgereicht.

Letztendlich liegt der Grund für meine Enttäuschung aber wahrscheinlich bei mir: ich kam in der Erwartung eines psychologisch intensiven Kammerspiels, ich bekam nach den ersten zwanzig Minuten knalliges Popcorn-Kino mit Thrill-Garantie. Daran ist zunächst nichts auszusetzen, aber es ist auch nicht so revolutionär, wie man ob der allgemeinen Begeisterung meinen könnte. Weltraumdramas gab's schon früher, wenn auch keine so nett anzusehenden. Aber die Story hält die Spannung tatsächlich konstant hoch, auch wenn so viele unglückliche Zufälle, wie sie Dr. Stone widerfahren, fast schon wieder zum Lachen anregen.
Dennoch: an vielen Stellen wirkt der Film oberflächlich, seltsam hohl, irgendwie unfertig. Und hat in dieser Hinsicht Einiges mit dem Weltall selbst gemein: das ist auch recht hübsch, aber anfangen kann man damit wenig.

Von mir gibt es aufgrund der tatsächlich überwältigenden Optik und der - objektiv betrachtet - allgemein souveränen Ausführung 7 von 10 Punkten.

Freitag, 24. Mai 2013

Alle auf den Hipster

Um ihrer Freundin Mia beim kalten Drogenenzug zu helfen, quartieren sich die Freunde Eric, Olivia, David (Mias Bruder) und seine Freundin Natalie mitsamt besagter Patientin und ihrem Schäferhund in einer Waldhütte ein. Zwischen Mia und ihrem Bruder herrscht dicke Luft, seit ihre Mutter in einer geschlossenen Anstalt gestorben ist und David sich nicht um sie gekümmert hat. Apropos dicke Luft: weil es in dem Haus nach Aas stinkt, steigen die Männer in den Keller hinunter. Dort entdecken sie Furchtbares: verwesende Tierkadaver hängen von der Decke, und auf einem Tisch liegen eine Schrotflinte und ein mysteriöses Buch namens "Naturom Demonto". Darin findet Eric - mit Vollbart, Holzfällerhemd und Pädo-Brille eindeutig der hipste in der Gruppe - verschiedene satanische Zeichnungen, seltsame Runen und mehrere Warnungen, nicht laut aus dem Buch zu lesen.

Und was tut er? Er liest laut aus dem Buch.


Soweit die grundlegende Handlung zu Fede Alvarez' Interpretation des Horror-Klassikers "Tanz der Teufel" (englischer Titel: "The Evil Dead") von 1981, der damals sämtliche Grenzen überschritt und in Deutschland bis heute beschlagnahmt ist. Sam Raimi, der Regisseur des Originals und Produzent des Remakes, wurde später übrigens mit Filmen wie der Spiderman-Trilogie, "Drag me to hell" oder "Schneller als der Tod" bekannt, ist also kein ganz unbeschriebenes Blatt. Ebenfalls kein ganz unbeschriebenes Blatt ist Bruce Campbell - Co-Produzent gemeinsam mit Rob Tapert - der 1981 mit seiner Hauptrolle als Ash Williams seinen Kultstatus unter B-Movie-Fans begründete und heute vor allem als Sam in "Burn Notice" in Erscheinung tritt.

Der größte Unterschied zum Original ist neben der etwas anderen Handlung die allgemeine Stimmung: während sich "Tanz der Teufel" abseits des ganzen Gemetzels durch einen absurden Humor auszeichnet, der so typisch für Bruce Campbell ist, fehlt dieser im Remake völlig. Hier gibt es nur staubtrockenen und knüppelharten Splatter ohne ein Fünkchen Witz. Das ist zwar weder besonders gruselig noch spannend, bezieht seine Faszination aber durch die dichte Atmosphäre (ganz altmodisch erschaffen durch strömenden Regen, dunkle Keller und eine staubige Holzhütte), das ziemlich coole Böse und - man kann es nicht abstreiten - die heftige Gewaltdarstellung. Dabei trifft es den armen Eric am schlimmsten, aber der hat den ganzen Schlamassel ja schließlich auch erst ausgelöst. Trotzdem kann er einem ob der vielen unschönen Dinge, die ihm widerfahren, schon mal leidtun. Bei einigen Szenen dürften auch hartgesottene Gorehounds nur mit einem Auge hinsehen können - ein mit Wucht geschwungenes Brecheisen und menschliche Finger vertragen sich beispielsweise ganz schlecht. Das ungekürzte Original darf in Deutschland nach wie vor nicht verkauft werden, das Remake kam mit minimalen Zensuren mit einer Freigabe ab 18 davon - so ändern sich die Zeiten.

Sehr erfreulich: es wurde gänzlich auf CGI verzichtet, und das ist gut so! Allzu oft werden Filme durch miserable computergenerierte Effekte ins Lächerliche gezogen, wie letztens auch "Mama" (der allerdings auch andere Probleme hat). Ebenfalls schön: anstatt alle zwei Minuten auf Schockeffekte zu setzen, wird mehr Wert auf Atmosphäre gelegt. Richtig unheimlich wird es zwar trotzdem nicht, aber das ist eher der Tatsache geschuldet, dass wir das Böse allzu oft zu Gesicht bekommen, und wirklich erschreckend sieht das auch nicht aus. Klar gibt es auch die üblichen Jumpscares, aber die sind meistens gut getimt, wenn auch etwas vorhersehbar. Am schlimmsten sind tatsächlich die zahllosen ekligen Dinge, die die Dämonen sich selbst oder anderen zufügen. Das war aber bei "Tanz der Teufel" auch nicht viel anders.

Die Schauspieler sind in Ordnung, vor allem Jane Levy als Mia macht ihre Sache gut. Wenn man einen starken Magen hat und mit der Brutalität zurecht kommt, ist der Film absolut empfehlenswert. Von mir gibt es jedenfalls 8 / 10 Punkten.

Donnerstag, 9. Mai 2013

Alles Gute zum Muttertag!

Nach einer fünfjährigen Suche nach seinem verschollenen Bruder und dessen zwei Töchtern Victoria und Lilly wird Lucas Desange (gespielt von Nikolai Coster-Waldau; viel zu gut aussehend, um sympathisch zu sein) fündig: in einer Holzhütte im Wald entdeckt man die beiden völlig verwilderten Kinder, die sich wie Tiere bewegen und mit Fauchen und Knurren zu verteidigen versuchen. Dr. Gerald Dreyfuss, ein Psychologe, beschäftigt sich mit dem Fall und erfährt in seinen Sitzungen von "Mama": ein Wesen, das sich in der Abgeschiedenheit um die Schwestern gekümmert hat.
Lucas und seine punkrockende Lebensgefährtin Annabelle (Jessica Chastain) nehmen die Kinder bei sich auf - aber "Mama" ist ziemlich eifersüchtig.

Das also ist - grob umrissen - der Plot von Andrés Muschiettis erstem abendfüllendem Spielfilm mit dem sinnigen Titel "Mama". Der Kurzfilm, auf dem diese Fassung basiert, erschien 2008 und begeisterte die richtigen Leute - in diesem Fall Horror-Guru Guillermo del Toro, der als Produzent fungierte und das Budget von knapp 15 Millionen Euro ermöglichte.

Das größte Problem gleich zuerst: hier ist nicht viel mit subtilem Grusel - wenn die Musik anschwillt und irgendetwas Seltsames passiert, kann man zu hundert Prozent damit rechnen, dass gleich jemand aus den Schatten und vorzugsweise auf die Kamera zuspringt. Dadurch erleidet der Zuschauer zwar viele kleine Herzattacken, aber wirklich durchgängige Spannung und Atmosphäre, wie sie z.B. "Blair Witch Project" oder "Die Frau in Schwarz" erschaffen, will nicht so recht aufkommen, Muschietti jagt das Publikum von einem Jumpscare zum nächsten. Dabei sei ihm zugute gehalten, dass diese teilweise wirklich markerschütternd ausfallen und manchmal sogar an den Schock-König "The Ring" erinnern, aber auch das täuscht nicht darüber hinweg, dass es letztlich doch nur ein billiger Trick ist, umso mehr, da die CGI-Effekte bestenfalls passabel sind.

Dabei hat der Film sonst vieles, was für ihn spricht: die Schauspieler sind in Ordnung (Jessica Chastain ist als Goth zwar gewöhnungsbedürftig, aber doch überzeugend), und die Kamerafahrten sind der Stoff, aus dem Albträume sind. Eine Handvoll Szenen stechen aus den üblichen Horrorklischees hervor und zeugen von Brillanz. "Mama" ist hübsch hässlich und verbiegt sich in Richtungen, in die sich nicht einmal ein Geist verbiegen sollte, und die gurgelnden Geräusche, die sie von sich gibt, gehen gar nicht. Am Antagonisten liegt es also nicht, dass der Film letztendlich doch nur Durchschnitt ist.

Vielmehr ist es das oben beschriebene Problem: Schocks ja, Spannung nein. Das fast ein wenig rührselige Ende wirkt nach der in allen Belangen geradezu dämonischen Darstellung "Mamas" doch ein bisschen aufgesetzt. Und natürlich ist es das alte Spiel: die Charaktere verhalten sich mal wieder dümmer, als die Polizei erlaubt: Die beiden unheimlichen Mädchen, die ich gerade adoptiert habe, singen ein gruseliges Schlaflied im Duett mit einer tiefen Frauenstimme? Da sehe ich doch besser gleich nach! Eine verzerrte Silhouette sagt mir, ich solle im Wald nach Antworten suchen? Na, es ist zwar gerade mitten in der Nacht, aber ich bin schon so gut wie weg.

Ein echter Lichtblick sind die beiden jungen Schauspielerinnen Megan Charpentier und Isabelle Nélisse, die die Schwestern Victoria und Lilly spielen und die besten Momente auf ihrer Seite haben. Aber am Ende bleibt das Fazit: einiges gut gemacht, einiges schlecht gemacht, einiges an Potenzial verschenkt.
Dafür gibt es 5 / 10 Punkten.